Ich wartete an der Bushaltestelle. Ist schon ein paar Jahre her und es gab noch nicht diese Anzeigen, die die Ungeduld bändigen, indem sie die Minuten bis zur Abfahrt in einem Countdown herunterzählen.
Ein Junge sprach mich an: „Dauert es noch lange, bis der Bus kommt?“
Er sah eigentlich nicht wie ein Grundschüler aus. Ein Teenager, er sollte den Fahrplan lesen können. Aber unfreundlich wollte ich nicht sein und gern auch eine genaue Antwort geben.
„Dauert es noch lange, bis der Bus kommt?“
Also ein Blick auf die Armbanduhr, ein Blick auf den Fahrplan und eine Antwort gegeben, die präziser nicht sein konnte: „Nach Fahrplan noch 8 Minuten.“ Wie wenig hilfreich meine Antwort war, wie ungenau, und wie weit sie am Kern seiner Frage vorbei ging, merkte ich überrascht, als der Junge zurückfragte:
„Ist das lange?“
Ist Zeit kurz? Oder ist Zeit lang?
Ich bin ein riesiger Fan von Laurie Anderson. Und das seit ich 1981 „O Superman“ im Radio hörte.
Seither sammle ich alle Tonträger und Bücher von Laurie Anderson, die ich finden kann. Gegen Mitte der 80er Jahre waren das fünf Veröffentlichungen auf Warner und ich dachte, damit wäre meine Sammlung komplett.
Da erfuhr ich Mitte der 80er Jahre von der Existenz mir bisher unbekannter Aufnahmen: es gab eine LP, eine Doppel-LP gar, mit dem Titel „You're the Guy I Want to Share My Money With“, eine Zusammenarbeit von Laurie Anderson mit dem Schriftsteller William S. Burroughs.
Burroughs raue Stimme war in einem ihrer Lieder zu hören. Und in einem Konzertfilm, der damals für genau einen Tag im Programmkino gezeigt wurde, hatten die beiden miteinander Tango getanzt.
Ich vermutete Aufregendes, Atemberaubendes und das Geheimnisvollste hinter den Aufnahmen, fand aber keine Möglichkeit, das Album zu hören oder zu bestellen. Natürlich hatte ich die Plattenläden in Braunschweig und in Hannover durchsucht und in Berlin gesucht, den 2001-Katalog studiert und bei City Star nachgefragt und bei Salzmann nachgefragt. Aber das Album war, noch bevor Laurie Anderson mit „O Superman“ weltweit bekannt wurde, auf einem kleinen amerikanischen Avantgarde-Künstler-Label erschienen und in einer Welt vor dem Internet einfach nicht zu bekommen.
Genauer war es damals eine Welt am Beginn des Internets. Es gab noch keine Internetseiten, kein World Wide Web. Aber das Internet war schon da und für mich bestand es aus der E-Mail-Adresse des mathematischen Instituts, an dem ich damals als Werkstudent arbeitete. (Und wenn ich mich recht erinnere, las ich während meiner Studienzeit vier oder fünf E-Mails und schrieb eine.)
Jedenfalls. An diesem Institut arbeitete für ein Semester ein junger Wissenschaftler aus Ohio, mit dem ich Freundschaft schloss. Ich nahm Paul mit auf Konzerte von Blue Bamboo und La Petite Mort und spielte ihm Platten von Laurie Anderson vor. Und zurück in den USA revanchierte sich Paul und hielt für mich Ausschau nach dem Album, das ich nun schon so lange suchte. Aber auch in seinem Wohnort Cincinnati war die Platte nicht aufzutreiben.
Doch ein halbes Jahr später landete „You're The Guy I Want To Share My Money With“ in meinem Briefkasten verpackt in einer Papiertüte des Plattenladens „Cosmic Aeroplane“ in Salt Lake City. Paul hatte dort seinen Vater besucht und war fündig geworden.
Was für ein Glück! Was für eine lange Zeit, die mich allein der Titel des Albums beschäftigt hatte.
Vor einigen Jahren wollte ich herausfinden, wie schnell ich mit Hilfe des Internets an die Aufnahmen kommen würde. Mit dem ersten Treffer führte mich Google auf eine MP3-Download-Seite des Albums.
Kurze Geschichte.
Ist Zeit lang? Oder ist Zeit kurz?
Ich gehe gern in ein Restaurant, ein Café oder eine Kantine, die von der Lebenshilfe betrieben wird. Grund sind die Menschen, die hinter dem Tresen stehen oder bedienen. Ich mag ihre warmherzige Offenheit. Ihre Freundlichkeit ist nie künstlich oder verstellt, ihre gute Laune oft ansteckend.
Als es nach dem Corona-Lockdown – zumindest unter Auflagen – wieder möglich war, besuchte ich mit Freunden das Lebenshilfe-Café Anton im Herzog-Anton-Ulrich-Museum. Eine der liebenswürdigen Bedienungen kontrollierte mein gültiges Impf-Zertifikat und ließ sich dazu auch meinen Personalausweis geben. Nach gründlicher Begutachtung bemerkte die junge Frau: „Sie sehen älter aus als auf dem Foto.“ Hatte ich die warmherzige Offenheit erwähnt, die ich so mag?
„Ja, ja, das Foto ist schon älter“, war meine Erklärung dafür, der jedoch empört widersprochen wurde: „Nein, nein, Sie sehen älter aus!“
Foto älter? Ich älter? Ich war mit Freunden unterwegs, es war laut im Café, ich konnte mich nicht gut konzentrieren. Waren wir einem Paradoxon auf der Spur?
Ist Zeit lang? Oder ist Zeit kurz?
Und welche Zeit ist wichtiger?
Jetzt, weil es jetzt ist – aber nur kurz.
Oder die Kindheit, unser Teenager-Zeit, die Zwanziger, weil wir die Erinnerung daran so lang in uns tragen?