Ein Freund erzählte mir, dass er sich beim Fernsehen immer anständig hinsetzen und sauber angezogen sein musste. Er durfte nicht in der Nase bohren, nicht gähnen oder niesen, ohne die Hand vor den Mund zu halten, nicht die Füße auf das Sofa legen, nicht neben seinem Bruder sitzen (um Streit zu vermeiden), nicht im Schlafanzug vor den Fernseher sitzen, keine abfälligen Bemerkungen über den Nachrichtensprecher machen und – auch das gehörte zum Regelwerk – nicht auf den Bildschirm zeigen. Sein Vater setzte sich nie ohne Krawatte vor den Fernseher und achtete außerdem darauf, dass das Wohnzimmer aufgeräumt war und kein Essgeschirr herumstand, bevor er den Fernseher einschaltete.
Er hielt es für möglich, dass der Nachrichtensprecher in ihr Wohnzimmer schauen konnte. Er konnte Herrn Köpcke sehen, warum sollte Herr Köpcke ihn nicht sehen können?
Er fand genug Hinweise, dass Herr Köpcke ein wenig missbilligend schaute, wenn seine Frau mitten in der Sendung ans Telefon ging, oder dass Herr Köpcke leicht lächelte, wenn die Familie komplett, besonders adrett gekleidet, pünktlich und aufmerksam auf den Bildschirm schaute.
Diskutieren half nicht. Auch nicht der Vergleich mit dem Kino. Natürlich glaubte er nicht, dass man im Kino von einem der Leinwandhelden gesehen werden konnte. Das war schließlich eine ganz andere Technik. Im Kino wird eine Filmrolle in den Projektor gelegt und dann wird Licht von der Leinwand in den Zuschauerraum reflektiert. Man sieht nur die Reflexion von Bildern, die vor längerer Zeit aufgenommen wurden. Bei der Tagesschau ist das anders. Man schaut direkt in das Fernsehstudio, in dem Herr Köpcke sitzt, in diesem Moment. Zeitgleich und ohne Umwege. Eine ganz andere Technik. Hier ist es 20 Uhr, dort ist es 20 Uhr. Ich schaue in den Fernseher, Herr Köpcke schaut mich an.